Bildungsurlaub bei der Polizei – LVB-Pressesprecher sammelt neue Erfahrungen
von Marc Backhaus | 05.12.2024
von Simone Liss | 18.11.2025
Ob im Beruf, Verein oder in der Familie: Der Psychologe Elias Altuntas (29) erlebt bei seinen Coachings, Vorträgen und Moderationen oftmals fragwürdige Männer- und Rollenbilder, Selbstbetrug, Selbstsabotage, Scham vor vermeintlichen Schwächen, Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Gerade deshalb wirbt der Leipziger Psychologe und Berater auch bei Arbeitgebern, Führungskräften und Kollegen um Offenheit und Verständnis für die Bedürfnisse von Männern. Ein Beitrag zum Internationalen Männertag am 19. November.
Starke, kräftige Hände und ein fester Händedruck werden oft mit Selbstsicherheit und Entschlossenheit in Verbindung gebracht – doch steckt dahinter auch eine starke Persönlichkeit?
Starke, kräftige Hände und ein fester Händedruck werden oft mit Selbstsicherheit und Entschlossenheit in Verbindung gebracht – doch steckt dahinter auch eine starke Persönlichkeit?
Der Leipziger Psychologe Elias Altuntas erlebt oftmals fragwürdige Männer- und Rollenbilder, Selbstbetrug, Selbstsabotage und Scham vor vermeintlichen Schwächen.
Frage: Auf Ihrer Homepage stellen Sie sich explizit so vor: Ich bin Mensch. Ist es heutzutage von Nachteil, zu seinem Mannsein zu stehen?
Elias Altuntas: In erster Linie bin ich ein Mensch – keine Maschine. Und als Mensch übernehme ich Verantwortung für mein Tun, mein Verhalten, meine Haltung und meine Emotionen. Das Mannsein ist Teil meines Menschseins und Menschen sind vielschichtig. Ob es ein Nachteil ist Mann zu sein? Im Gegenteil, ich bin mir eher bewusst, dass es ein großer Vorteil ist, Mann zu sein. Mann wird strukturell und institutionell begünstigt – er verdient noch immer mehr Geld, hat Macht und macht Karriere. Ich finde es spannend, die Ursachen dafür zu verstehen, zu reflektieren und Alternativen dazu aufzuzeigen. Und darauf hinzuweisen, dass das alles einen Preis hat.
Der Leipziger Psychologe Elias Altuntas erlebt oftmals fragwürdige Männer- und Rollenbilder, Selbstbetrug, Selbstsabotage und Scham vor vermeintlichen Schwächen.
Frage: Sitzpinkler, Warmduscher, Frauenversteher: Das waren früher Beleidigungen. In Zeiten von Mansplaining und Manspreading hat Maskulinität hingegen keinen guten Ruf mehr. Wie denken Männer selbst über ihr Rollenbild?
Elias Altuntas: Die Rolle, die Männer oftmals spielen, entspricht zumeist einer Erwartung, die an sie gestellt wird. Überspitzt könnte man sagen: Man wird nicht als Mann geboren, sondern man wird zu einem Mann gemacht. Mir hat man noch erzählt, ich solle „Eier haben“ und die „Ellenbogen ausfahren“.
Wer kennt das nicht: Mann soll stark, mutig, zielstrebig, souverän, allwissend sein. Wenn ich das versuche zu erfüllen, dann befriedigt das mein fundamentales Bedürfnis nach Schutz, Orientierung und Kontrolle. Doch dieses Männlichkeitsideal bringt auch viele Männer in Not. Wohin mit Schwäche, Zweifeln, Angst, Hilflosigkeit, Furcht, Schüchternheit, Weichheit, Bedürftigkeit?
Frage: Warum wird Männlichkeit gerade so oft als problematisch, gar toxisch dargestellt – und regelrecht pathologisiert?
Elias Altuntas: Männlichkeit per se ist erst einmal nicht toxisch. Toxisch im Sinne von schädlich oder destruktiv ist Männlichkeit, wenn emotionale Kälte zum Ideal wird. Damit ist die Verherrlichung oder Legitimierung von Aggressionen, Unterdrückung und Gewalt auf Basis der Geschlechtszugehörigkeit gemeint.
Wer seine Gefühle und Ängste allerdings aufgrund von Normierung permanent unterdrückt und verleugnet, droht sich kaputt zu machen. Ich vergleiche das gern mit einem Wasserball, den man unter Wasser drückt. Je tiefer man ihn drückt, desto schwerer ist er zu kontrollieren und je rasanter und heftiger ploppt er nach oben an die Wasseroberfläche. Was sich da entlädt, ist schwer aufzufangen. Ähnlich verhält es sich mit Emotionen.
Frage: Was haben diese Verhaltensweisen für Folgen?
Elias Altuntas: Unter Männern, die ungefragt Dinge erklären, sich breit machen, zu laut über ihre eigenen Witze lachen, aggressiv genervt sind vom Gendern, die belästigen, demütigen und gewalttätig sind, leiden nicht nur Frauen, sondern auch Männer. Und das nicht nur physisch. Auch der psychische Druck, den Menschen aushalten müssen, um als richtige Männer durchzugehen, wird maßgeblich von anderen Männern erzeugt. Denn toxische Männlichkeit wird im Alltag zu einem großen Teil von Männern untereinander forciert und eingefordert durch das Belächeln, Auslachen, Kleinreden, Verurteilen, Verletzen, Bloßstellen, Beleidigen, Beschimpfen und Diskriminieren von Männern, die nicht der Idee des wahren Mann-Seins entsprechen. Das eigentliche Problem am Männlichkeitsideal ist die Angst davor, ihm nicht zu entsprechen. Die Sorge, nicht männlich genug zu sein, begleitet meiner Erfahrung nach viele Jungs und junge Männer. Toxische Männlichkeit resultiert im Prinzip aus der Angst vor Entmannung, die als das Schlimmste gilt, was einem Mann passieren kann.
Frage: Warum fällt es Männern so schwer, zu entscheiden, welche Art von Mann sie sein wollen?
Elias Altuntas: Weil in ihnen alte Muster mit neuen Erwartungen kollidieren. Die Widersprüchlichkeit zwischen Gelerntem und neuen Entwicklungen nennen wir in der Psychologie kognitive Dissonanz – einen unangenehmen Spannungszustand verschiedener Gedanken, Wünschen oder Verhaltensweisen, die viele Männer nur schwer aushalten und die sie auflösen wollen, ohne zu wissen wie. Vorbilder können dabei helfen – Führungskräfte, die auch mal zugeben, an ihren Grenzen zu sein; Freunde, die vor Glück oder Unglück weinen. Der Schlüssel zum Überwinden der giftigen Männlichkeit liegt vor allem in einem neuen Miteinander unter Männern.
Vor allem im Sport ist der Wandel schon wahrnehmbar. Jahrzehntelang strotzten Sportidole nur so vor traditioneller Männlichkeit: starke, erfolgreiche Hetero-Männer, die sich durchkämpfen und wissen, was sie wollen. Doch der tragische Tod von Robert Enke hat die öffentliche Aufmerksamkeit auf das Thema mentale Gesundheit im Profifußball gelenkt. Er litt unter schweren Depressionen und verheimlichte seine Krankheit aus Angst vor beruflichen und öffentlichen Konsequenzen, was ihn letztlich in den Suizid trieb.
Frage: Sie spielen bei der SG LVB Fußball – sprechen Sie in der Kabine oder beim Bier eher über einen möglichen Kreuzbandriss oder über eine mögliche Depression?
Elias Altuntas: Auf dem Platz dominieren noch immer die Platzhirschthemen. Da wird eher über den Kreuzbandriss geredet. In der Kabine geht’s eher mal ans Eingemachte. Im geschützten, vertraulichen Raum ist es einfacher, mal – im besten Sinne des Wortes – die Hosen runterzulassen und offen über Nöte oder Sorgen zu sprechen. Wir sind in einem Prozess. Und ich bin guter Dinge, dass sich langsam etwas zum Besseren bewegt.
Frage: Männer begehen dreimal häufiger Suizid als Frauen, sterben dreimal häufiger bei Verkehrsunfällen, trinken und rauchen mehr, pflegen weniger Freundschaften und vermeiden oft, sich anderen Menschen gegenüber verletzlich zu zeigen. Welchen Preis zahlen Männer für ihr Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Akzeptanz?
Elias Altuntas: Viele Männer leiden stark auf körperlicher und psychischer Ebene. Viele fühlen sich einsam, haben keinen Zugang zu ihren Emotionen und kompensieren ihre empfundene Leere mit Alkohol oder anderen Suchtmitteln. Über Gefühle zu sprechen, fällt vielen Männern schwer, weil es als Zeichen der Schwäche gedeutet werden könnte. Verletzlichkeit gilt als Tabu. Das gilt auch auf körperlicher Ebene: Nur etwa zwölf Prozent der Männer gehen zur Prostatakrebsvorsorge, während 40 Prozent der Frauen zur Brustkrebsvorsorge gehen.
Frage: Verletzlichkeit gilt als Tabu. Laut dem Männergesundheitsbericht der Stiftung Männergesundheit aus dem Jahr 2023 hängt jeder vierte junge Mann zwischen 16 und 28 Jahren einem dominant-maskulinen Rollenbild an. Halten Sie das für bedenklich?
Elias Altuntas: Es zeigt, dass traditionelle Muster nachwirken. Und dass es Zeit wird und eine Chance ist, Gespräche über neue Formen der Männlichkeit zu führen.
Frage: Sie haben in Mainz Psychologie studiert und darüber geforscht, wie sich unsere persönlichen Wertvorstellungen auf unser Wohlbefinden auswirken: Was macht es mit Männern, wenn sie sich in der Hack- und Rangordnung ganz oben sehen, einem archaischen, misogynen Frauenbild anhängen und Veränderungen wie den geschlechterpolitischen Wandel abwehren?
Elias Altuntas: Kurzfristig schafft diese Sichtweise Sicherheit, Kontrolle und klare Identität mit verinnerlichten Werten und Normen. Langfristig führt diese Sichtweise zu Isolation, Konflikten und Unsicherheit. Meine Forschung zeigte einen klaren Zusammenhang zwischen Werte-Diskrepanzen und Wohlbefinden: Wenn zwischen dem, was man sagt und dem, was man tut ein Widerspruch besteht, kann das zu Unwohlsein führen. Das gilt privat wie beruflich. Wer gesund alt werden will, aber nicht danach lebt, wird auf lange Sicht damit ein Problem haben. Wer sich nach Nähe, einer Beziehung oder Partnerschaft sehnt, aber nach außen Unabhängigkeit und Freiheit postuliert, wird auf lange Sicht ein Problem haben. Wer Erfolg schätzt und Familienleben liebt, aber aufgrund der Arbeitszeiten und ständiger Präsenzpflicht nicht nach Hause kommt und ständig gestresst ist, wird auf lange Sicht ein Problem haben.
Frage: Wenn Sie sich mit Freunden darüber austauschen, was ihnen ihre Väter mit auf den Weg gegeben haben oder ob ihre Väter Vorbilder für sie gewesen sind – zu welchem Ergebnis kommen sie dann?
Elias Altuntas: Wie schon gesagt: Auch unsere Väter sind zu Männern gemacht worden. Aber auch sie sind lernfähig und begreifen, dass es eine Chance ist, Perspektiven zu wechseln und Standpunkte zu revidieren. Oder sich verletzlich zu zeigen und Tränen nicht zu unterdrücken. Ich habe mich – wie viele meiner Freunde – als Kind nach positiven Vorbildern gesehnt. Gerade im Fußball. Nach Leuten wie Robin Gosens, der heute in seinem Podcast „Wie geht’s?“ mit prominenten Männern über mentale Gesundheit spricht. Diesen Podcast ist ein Gewinn und empfehlenswert: Wie geht's? mit Robin Gosens | Podcast on Spotify
Frage: Mehr Jugendpädagogik, Männerberatung, Väterbildung, mehr Solidarität: Was können Arbeitgeber, Führungskräfte, Frauen für Männer besser machen? Und wie kann es gelingen, das Thema Männergesundheit aus der Tabuzone zu bekommen?
Elias Altuntas: Ratsam sind Gesprächsangebote und geschützte Räume, in denen Männer reden dürfen, ohne bewertet zu werden – vor allem in Unternehmen und Organisationen. Zudem wünsche ich mir mehr positive Rollenmodelle in Medien und Alltag. Männer sollten nicht nur als Problemgruppe gesehen werden, sondern als Menschen mit Entwicklungsaufgaben. Stichwort Mensch: Jeder darf bei sich anfangen und kritisch die eigenen Vorstellungen darüber „Was heißt es, Mann zu sein?“ reflektieren.
Frage: Wir dürfen leider nicht davon ausgehen, dass die kommenden Generationen von allein immer progressiver werden?
Elias Altuntas: Leider nicht. Von allein passt hier nichts: Werte verändern sich durch Vorbilder, nicht durch den Lauf der Zeit – es gilt weiter den konstruktiven Dialog zu fördern.
Die Netflix Serie „Alphamännchen“ zeigt, wie vier enge Freunde in ihren 40ern ihr Bestes geben, um sich in einer Welt der neu definierten Maskulinität zu behaupten.
ZDF-Debattenformat zum Thema „Männlichkeit“: Sind Männer die Verlierer von heute? | 13 Fragen | UNBUBBLE
Männlich, hetero: So erfährt man vermeintlich seltener Sexismus als andere Menschen. Mit dem Buch „Sei kein Mann“ macht der britische Autor JJ Bola ein Angebot, dass diese Männer ihre Privilegien reflektierten.