Vielfalt statt Einfalt: Leipziger bieten Mitfahrgelegenheit auf CSD-Truck
von Simone Liss | 15.06.2023
von Simone Liss | 05.05.2025
Einen passenden Ausbildungs- oder Studienplatz zu finden – gar nicht so einfach. Erst recht mit Handicap. Darauf macht heute der Protesttag für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung aufmerksam. Luis Holder hatte Glück. Seine Sehbehinderung: Für die Leipziger Wasserwerke kein Hindernis. Wie Inklusion gelingen kann? Lesen Sie selbst.
Drei Punkte für mehr Sicherheit: Dieser gelbe Taster signalisiert Menschen mit eingeschränktem Sehvermögen Grünphasen und Hindernisse an einer Ampel.
Blick über Luis‘ Schulter auf seinen Arbeitsplatz: Dank digitaler Bedienungshilfen steht seiner Arbeit am Computer nichts im Weg.
Gute Nachrichten aus Hoyerswerda: Das ist das preisgekrönte Buch „Die Kinder von Hoy“. Da ist der Sächsische Beteiligungspreis 2024 für einen kommunalen Entwicklungsbeirat. Der Regine-Hildebrandt-Preis für die Kulturfabrik. Da sind die Bundesligafußballer Tony Jantschke und Matthias Heidrich, die in Mönchengladbach und Aue die Fahne für Hoyerswerda hochhalten. Beide Verteidiger – wie Luis Holder. Der 19 Jahre alte Student spielt beim Hoyerswerdaer Fußballclub. So weit, so normal. Doch Luis ist kein Spieler wie jeder andere. Er leidet an einer Optikusatrophie, die den Sehnerv verkümmern lässt und zur Erblindung führen kann. Luis gilt als schwerbehindert. Doch das hält ihn nicht auf. Er verteidigt, obschon er Objekte, Gegenstände, Farben, Licht, Konturen schlecht sieht. „Ich spiele seit meiner Kindheit, hab ein gutes Gehör und kann mich auf meine Sinne verlassen und mich gut orientieren“, sagt der junge Mann, der die Woche über in Leipzig, und am Wochenende bei seinen Eltern in Großräschen, im Lausitzer Seenland, lebt.
Was Luis Woche für Woche nach Leipzig zieht? Ein Duales Studium bei den Leipziger Wasserwerken. Luis ist der erste Student im neuen Studiengang Nachhaltige Ingenieurwissenschaft für Immobilien und Anlagen des kommunalen Unternehmens. Und er ist der erste Student seines Fachs mit Handicap. Zweimal neu macht einmal Aufregung – auf allen Seiten. „Wir haben Luis in ein Team von sechs Kolleginnen und Kollegen integriert. Das Team erstellt für das 3600 Kilometer Leipziger Rohrnetz und seine Verteil-Anlagen die Inspektions-, Wartungs- und Instandhaltungspläne. Bei uns wird jede Hand gebraucht und einer kann sich auf den anderen verlassen“, sagt Uwe Boeck, Teamleiter Anlagen- und Rohrnetzmanagement.
Dass Luis eingeschränkt sieht und nicht allein auf und in Anlagen unterwegs sein, nicht ohne Begleitung in Gruben und Behälter steigen kann – „diese Vorstellung war erst einmal ungewöhnlich", so Boeck. Doch der Wille aller war da. „Der gesamte Fachbereich Rohrnetz umfasst insgesamt 65 Kollegen und ist sehr verschieden – von 25 bis 65 ist jedes Alter vertreten. Zudem haben sieben Kollegen ein Handicap – die Begriffe Leistungsminderung beziehungsweise -wandlung und ihre Bedeutung sind uns nicht fremd. Ich selbst habe Diabetes und weiß um die Grenzen der Belastbarkeit. Luis wollten wir keine Grenzen setzen und haben deshalb eine Tandem-Lösung für ihn gefunden: Ein Kollege, der in zwei Jahren in Rente geht, bleibt zunächst bis dahin an Luis‘ Seite.“
Kerstin Schultheiß, Arbeitsdirektorin der Leipziger Gruppe.
Katja Otto freut sich über die Haltung von Boecks Team. „Leistungsgeminderte oder leistungsgewandelte Bewerber, Auszubildende, Mitarbeiter zu ignorieren oder gar als ,Low Performer‘ anzusehen, ist weder fair, noch personalstrategisch sinnvoll“, sagt die Aus- und Weiterbildungsverantwortliche bei den Leipziger Wasserwerken und Ansprechpartnerin für Luis.
„Die Geschichte von Luis Holder zeigt eindrucksvoll, wie Inklusion in der Praxis gelingen kann und welche positiven Auswirkungen sie auf unser Arbeitsumfeld hat“, sagt Kerstin Schultheiß, Arbeitsdirektorin der Leipziger Gruppe. Der kommunale Unternehmensverbund zählt rund 5.000 Beschäftigte – darunter mehr als 330 schwerbehinderte und gleichgestellte Beschäftigte. Sie können sich auf eine Inklusionsvereinbarung verlassen, die deutschlandweit einmalig ist und 2019 mit dem Deutschen Betriebsrätepreis ausgezeichnet wurde. „Inklusion und Diversität sind zentrale Werte, die unser Unternehmen bereichern und stärken“, sagt Schultheiß. Die Inklusion von Menschen mit Behinderungen oder anderen Einschränkungen sei nicht nur aus rechtlicher (Sozialgesetzbuch SGB IX) und sozialer Sicht geboten, sondern biete auch wirtschaftliche Vorteile.
In Deutschland sind rund 7,9 Millionen Menschen als schwerbehindert anerkannt, was etwa zehn Prozent der Bevölkerung entspricht. „Diversität und Inklusion sind daher für uns keine Modeerscheinungen, sondern Grundprinzipien, die unser Unternehmen erfolgreich und zukunftsfähig machen“, sagt Schultheiß.
Durch die Folgen einer angeborenen, chronischen oder akuten Erkrankung oder eines Unfalls kann es passieren, dass Beschäftigte nicht mehr oder nicht mehr voll und ganz die Anforderungen ihres Arbeitsplatzes erfüllen können. „Ziel einer verantwortungsvollen Personalentwicklung sollte es sein, ihnen auch dann so weit wie möglich eine leistungs- und persönlichkeitsgerechte sowie wertschöpfende Tätigkeit zu ermöglichen“, sagt Otto. Durch den Begriff Leistungswandlung wird dabei unterstrichen, dass diese Mitarbeiter über Leistungspotenzial verfügen und nicht in erster Linie als behindert oder eingeschränkt zu betrachten sind. „Leistungsgewandelte Mitarbeiter erfolgreich weiter zu beschäftigen, wird für viele Unternehmen vor dem Hintergrund längerer Lebensarbeitszeiten, älter werdender Beschäftigter und Fachkräftemangels ein immer wichtigeres Thema, dem wir uns nicht verschließen.“
Dass Mitstudenten, neue Kollegen oder Lehrkräfte schon mal irritiert oder überfordert sind, wenn sie Luis beobachten, bringt den passionierten Fußballer nicht aus der Ruhe: „Man sieht mir mein Handicap nicht an. Ich trage keine Brille, nutze aber die Bedienungshilfen meines iPads, um zu arbeiten. Per VoiceOver kann ich mir den gesamten Bildschirminhalt vorgelesen lassen. Ich lege eine Bildschirmlupe über Apps und Internetseiten, kann Kontraste erhöhen, Bewegungen reduzieren, Schriftgrößen anpassen, Texte fetten und PDFs oder Arbeitsblätter händisch via Goodnotes bearbeiten – das hilft sehr. Trotzdem passiert es ab und zu, dass mir jemand ungefragt empfiehlt, zum Optiker zu gehen oder eine Brille aufzusetzen. Doch das stört mich nicht. Was ich bedauere: Dass ich nicht Autofahren darf und nicht Kriminologe werden konnte.“ Stattdessen beschäftigt sich Luis jetzt mit Mathematik – „einem meiner Lieblingsfächer“, Informatik und Automation, Projekt-, Prozess- und Qualitätsmanagement sowie Betriebswirtschaftslehre, Strategien und Methoden der Instandhaltung, Instandhaltungsmanagement und Technische Diagnostik. „Dafür braucht man auch etwas detektivisches Gespür“, sagt er augenzwinkernd.
Laut Deutschem Gewerkschaftsbund (DGB) sind nur 3,4 Prozent aller bei privaten Arbeitgebern Beschäftigten und 5,9 Prozent bei öffentlichen Arbeitgebern behinderte Menschen. „Wir suchen in Deutschland händeringend nach qualifizierten Fachkräften - und gleichzeitig finden aktuell mehr als 176.000 Menschen mit Behinderungen keinen Job und das trotz abgeschlossener Ausbildung oder sogar Studium. Die Arbeitslosenquote schwerbehinderter Menschen ist knapp doppelt so hoch wie die Quote der Arbeitslosen allgemein. Um das zu ändern, müssen Arbeitgeber ihre Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderungen abbauen“, sagte Jürgen Dusel, Bundesbeauftragter für die Belange von Menschen mit Behinderung, bei der Verabschiedung der „Leipziger Erklärung“ im Herbst 2024, die die Beauftragten von Bund und Ländern für Menschen mit Behinderungen abgegeben haben.
Ab 20 Mitarbeitenden sind Arbeitgeber verpflichtet, schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen - das sind DGB-Angaben zufolge rund 179.000 Unternehmen in Deutschland. Erfüllt ein Arbeitgeber die Pflichtquote von fünf Prozent nicht, muss er für jeden unbesetzten Pflichtarbeitsplatz eine Ausgleichsabgabe bezahlen.
Der Arbeitsmarkt sei „nach wie vor exklusiv, statt inklusiv“, kritisierte der DGB-Landesvorsitzende Sachsens, Markus Schlimbach, zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung am 3. Dezember vergangenen Jahres. Die Unternehmen müssten ihre gesetzliche Beschäftigungspflicht ernster nehmen und der Inklusion bei der dualen Ausbildung einen höheren Stellenwert beimessen, verlangte Schlimbach und verwies auf vielfältige Unterstützung wie Lohnkostenzuschüsse, Finanzierung der Arbeitsplatzausstattung oder Begleitung im Betrieb.
Begleitung – sie ist Luis sicher. Zahlreiche Anläufe hatte er gebraucht, um ein verlässliches Ausbildungsunternehmen zu finden. Entsprechend froh ist er jetzt. Und dafür bereit, Hoyerswerda und seinem Fußballverein zumindest die Woche über den Rücken zu kehren. „Ich habe jetzt eine Perspektive und weiß, dass mehr geht als man denkt. Man ist nicht behindert, man wird oft behindert.“