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Raffiniert: Leuna wärmt Leipzig

von Simone Liss | 11.12.2025

In den Prozessanlagen des Chemieparks Leuna lagern unvorstellbare Mengen Wärme. Wie man diese Ressource effizient nutzen kann, hat ein cleverer Student rausgefunden und damit in der Geschichte der Leipziger Fernwärme eine neue Wegmarke gesetzt. 
 

In Leuna wurde am 25. September der Bau einer Fernwärmetrasse gestartet, die bald 100.000 Haushalte in Leipzig versorgen soll. Genutzt wird für die umweltfreundliche Art zu heizen Abwärme aus der Raffinerie von TotalEnergies.

Dieser Spaten vom Spatenstich ist für Marcus Krüger von besonderem Wert: Für den Projektleiter symbolisiert er Aufbruchstimmung in wirtschaftlich schwierigen Zeiten.

Die ersten 400 Meter Rohrgraben südlich von Tollwitz bei Bad Dürrenberg sind ausgehoben, die ersten 48 Meter Kunststoffmantelrohre geliefert, die ersten Bohrpfähle für das Fundament der Druckerhöhungsstation Kulkwitz gesetzt: Der Bau der Fernwärmetrasse von Leuna nach Leipzig ist gestartet. Auf diese Nachricht fiebern Marcus Krüger und Tom Schutt seit sechs Jahren hin.  

2019 schickte Krüger, damals Spezialist für lokale Energiestrukturen im Bereich Marktsteuerung der Leipziger Stadtwerke, Schutt, damals Student der Energie- und Umwelttechnik an der Hochschule Zittau/Görlitz, mit einer komplexen Frage in die Forschung: Ist es rechtlich, technologisch, ökologisch, wirtschaftlich möglich, eine rund 19 Kilometer lange Pipeline mit einem Fassungsvolumen von mehr als sechs Millionen Litern Heizwasser zwischen Leuna und Leipzig zu bauen, zu betreiben, weiterzuentwickeln? 
 

Ein Werk von Wert: Tom Schutt legte mit seiner Diplomarbeit den Grundstein für die Fernwärmetrasse von Leuna nach Leipzig.

Tom Schutt brauchte für sein Fazit vier Monate und 142 Seiten. Auf Seite 95 seiner Diplomarbeit steht es schwarz auf weiß: „Die Nutzung industrieller Abwärme aus der TotalEnergies Raffinerie Mitteldeutschland wird empfohlen.“ Eine simple Antwort auf eine komplexe Frage.

Schutt hatte ein vergleichbares Referenzprojekt gefunden: In Karlsruhe werden seit 16 Jahren 50.000 Haushalte mit Prozesswärme der Mineralölraffinerie Oberrhein GmbH & Co. KG beheizt – stabil, nachhaltig und bezahlbar, unabhängig von den Verwerfungen auf den weltweiten Energiemärkten, ohne Störung der Raffinerieprozesse, ohne Havarien oder dergleichen. Diese Anforderungen gelten auch für Leipzig.

Fernwärmetrasse soll Anfang 2028 ans Netz gehen

Bei Wengelsdorf soll die Fernwärmetrasse die Saale unterqueren.

„Natürlich gab es immer wieder Zweifel von verschiedenen Seiten. Das Vorhaben wurde kontrovers diskutiert. Die Zukunftsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit standen im Fokus. Auch mit Blick auf die Baukosten und die Inflationsraten in den vergangenen vier Jahren. Ich bin in meiner Diplomarbeit noch von 90 Millionen Euro Investitionskosten für die Stadtwerke ausgegangen – mittlerweile liegen wir bei 174 Millionen Euro. Dazu kommen rund 66 Millionen Euro für TotalEnergies für den Umbau der Anlagen“, sagt Schutt. Fast 100 Millionen Euro schießt der Bund an Fördermitteln zu, da das Vorhaben rund drei Millionen Tonnen CO2 einspart und die Energiekosten für Bürger und Wirtschaft stabilisiert.

Zudem kommt der Zeitdruck. Die Fernwärmetrasse soll in den kommenden beiden Jahren stehen und spätestens Anfang 2028 ans Netz gehen. Allein die Dimensionen des Baufelds sind enorm: Die geplanten Schutz- und Arbeitsstreifen entsprechen einer Fläche von rund 1.026.000 Quadratmetern – mehr als die Fläche der Leipziger Stadtteile Zentrum und Neustadt-Neuschönefeld zusammen.

Der Bodenaushub entspricht rund 267.000 Kubikmetern – was mehr als 130 Sportbädern an der Elster gleichkommt. Dazu sind rund 8.000 Einzelkomponenten – vorgedämmte Rohrsysteme, Bögen, Muffen, Absperrarmaturen, Umwälzpumpen zu verbauen. Außerdem zwei Leckage-Warnsysteme, um mögliche Flüssigkeitsaustritte metergenau zu detektieren. Überdies werden die Querung der Bahntrasse bei Spergau, die Unterquerung der Saale bei Wengelsdorf und die Unterquerung der Autobahn 9 in elf Metern Tiefe eine besondere Herausforderung. Doch Schutt und Krüger sind optimistisch. Beide halten es mit dem Sprichwort ihrer Eltern: Wer wagt, gewinnt.
 

Wegmarken der Leipziger Fernwärme

In den 1930er-Jahren werden unter anderem die Thomaskirche und das Neue Rathaus ans Fernwärmenetz angeschlossen.

1913 Städtisches Leihhaus Kunde der ersten Stunde
Am 20. November 1913 wird das Städtische Leihhaus am Yorkplatz (heute Finanzamt I am Wilhelm-Liebknecht-Platz) erster Fernwärme-Kunde. Beheizt wird es mit bis zu 180 °C heißem Abdampf aus dem benachbarten Elektrizitätswerk Nord in der Eutritzscher Straße. 1914 wird die Oberrealschule, heute Leibnizschule, angeschlossen. 1916 folgt das Stadtbad.

1924 Fernwärme für Elefanten
Die Vorteile der Gebäudefernheizung sprechen sich schnell herum. Das Dampfnetz wächst vom Nordwerk über den Nordplatz bis zur Ehrensteinstraße. Auch das Dickhäuterhaus im Zoo wird angeschlossen und die Elefanten mit Wohlfühltemperaturen versorgt.

1927 Das Dampfnetz wächst
Das Dampfnetz erreicht das Stadtzentrum. Der Südring führt vom Bahnhofsvorplatz bis zum Augustusplatz und der Universität. Versorgt werden nun auch das Kaufhaus Brühl und das Alte Theater am Richard-Wagner-Platz. Rund 100 Abnehmer profitieren nun von der modernen und komfortablen Stadtheizung. Das Netz misst bereits sieben Kilometer.

1930er-Jahre Die Innenstadt unter Dampf
Ende der 1930er-Jahre unterqueren die Hauptleitungen mit rund 20 Kilometern Länge fast die gesamte Innenstadt. Etwa 300 Abnehmer sind an die Fernwärme angeschlossen – darunter die Nikolai- und die Thomaskirche, das Neue Rathaus und die Zentrale Markthalle am Roßplatz.

1943 Gewaltige Kriegsschäden
Am 4. Dezember 1943 wird Leipzig bei Luftangriffen stark zerstört. Auch das Fernwärmenetz erleidet schwere Schäden. Bis zum Beginn der Heizperiode 1945 sind die Hauptleitungen wieder instandgesetzt und in Betrieb.

1950er-Jahre „Stadion der Hunderttausend“ wird angeschlossen
Neubauten prägen das Stadtbild. Das Wohnensemble am Roßplatz wird als erster Neubaukomplex mit Dampf versorgt. Auch das „Stadion der Hunderttausend“ wird 1956 angeschlossen. Der Energiebedarf der Kunden, zu denen auch die neu errichtete Oper zählt, erfordert den Ausbau des Heizkraftwerks Nord und den Umbau des Kraftwerks Süd zum Heizkraftwerk.

1958 Zeitenwandel: Das erste Heißwassernetz entsteht
Im Südosten entsteht das erste Heißwassernetz und leitet eine neue Fernwärme-Ära ein. Statt im wartungsintensiven Dampfnetz mit seinen gusseisernen Rohren wird nun Heißwasser in Kunststoffmantelrohren transportiert – diese sind einfacher und sicherer zu verlegen. Das neue Heizwassernetz ist elf Kilometer lang. Mit der Wärmeenergie des Südwerks in Connewitz werden die Technische Messe und die Universitätskliniken versorgt.

1960er-Jahre Im Winter stockt’s
Das Leipziger Dampfnetz ist inzwischen vier Quadratkilometer groß. Der Dampf erreicht 600 Abnehmer mit bis zu 100 Meter pro Sekunde. Schon bei leichtem Frost stocken der Kohlenachschub und die Wärmeversorgung.

1970er-Jahre Inselnetze für neue Wohngebiete
Seit den 1970er-Jahren entstehen in Leipzig vor allem fernbeheizte Wohngebiete. Drei Heißwasser-Inselnetze versorgen unter anderem die Stadtteile Lößnig, Thekla, Mockau, Schönefeld und Grünau.

1980er-Jahre Sichtbare Folgen der Mangelwirtschaft
Im Dampfnetz zeigen sich Schwächen. Ein Großteil der Kanäle und Leitungen ist verschlissen und müsste längst saniert werden. Die Dampfschwaden, die aus den Schachtdeckeln aufsteigen, sind Zeichen dieses Sanierungsstaus und der Mangelwirtschaft. Leipzig setzt daher auf Heißwasser und investiert in neue Inselnetze, die schrittweise zu einem Verbundsystem zusammengeschlossen werden. Sie versorgen neue Wohngebiete in Grünau und Paunsdorf.
 

Im Leipziger Stadtteil Lausen-Grünau wird die aktuell größte Solarthermieanlage Deutschlands errichtet.

1990er-Jahre Neuanfang: 36 Kilometer Dampfleitungen werden ersetzt
Nach der politischen Wende beginnt der Umbau der Wärmeversorgung. Ab 1992 ersetzt das Heißwassernetz den Dampf. Bis 1999 werden rund 36 Kilometer Dampfleitungen ersetzt. Als letzter Kunde wird das Zentralstadion umgestellt. Eine Ablösung dieser Größenordnung ist in Deutschland einmalig. In die neue Infrastruktur investieren die Stadtwerke 70 Millionen D-Mark.

1995 Energieschub: GuD heizt Leipzig ein
Im November geht die neue Gas- und Dampfturbinenanlage (GuD) in der Eutritzscher Straße in Betrieb. Sie deckt fortan einen Großteil des Energiebedarfs. Dank hocheffizienter Kraft-Wärme-Kopplung nutzt sie die Brennstoffe Kohle und Gas zu fast 90 Prozent aus.

1996 Braunkohlekraftwerk Lippendorf wird Wärmelieferant
Ab Oktober 1996 stellt das Braunkohlekraftwerk Lippendorf zusätzlich zur GuD eine Grundlastlieferung von 200 Megawatt Fernwärme bereit.
Jahrtausendwende und 2010er-Jahre: Energie im Doppelpack
Die Stadtwerke sind einer der ersten Energieversorger Deutschlands, der mit der effizienten und nachhaltigen Kraft-Wärme-Kopplung Strom und Fernwärme erzeugt. Die bei der Produktion von Strom entstehende Wärme verdampft nicht ungenutzt, sondern erhitzt das Wasser, das anschließend dem Fernwärmenetz zugeführt wird.

2014 Fernwärme im Brunnenviertel
Im Leipziger Westen werden ab 2014 genau 60 Gründerzeithäuser mit 38.000 Quadratmeter Fläche an das Fernwärmenetz mit 2,5 Megawatt Wärmeleistung angeschlossen.

2014 Wärmespeicheranlage geht in Betrieb
Die Leipziger Stadtwerke nehmen eine neue Druckwärmespeicheranlage (ca. 3.000 Kubikmeter) an der Arno-Nitzsche-Straße in Betrieb. Damit zählen sie zu den ersten großen Stadtwerken in Deutschland, die in diese Zukunftstechnologie investieren.

2023 Eröffnung des Heizkraftwerks Leipzig Süd
Schlüsselprojekt des Zukunftskonzepts Fernwärme: Das HKW Leipzig Süd zählt zu den emissionsärmsten Gasturbinenkraftwerken. Ein 60 Meter hoher Wasserspeicher mit 43.000 Kubikmetern Kapazität nimmt Wärme auf und speist sie bedarfsgerecht ein. Das erhöht die Versorgungssicherheit.

2024 Baustart Solarthermieanlage Lausen-Grünau
Im Leipziger Stadtteil Lausen-Grünau wird die aktuell größte Solarthermieanlage Deutschlands errichtet. Die 65.000 Quadratmeter große Anlage wird ganzjährig etwa zwei Prozent des Gesamtwärmeverbrauchs von Leipzig erzeugen. Im Sommer wird der Anteil der solaren Wärme an der Fernwärme dann deutlich größer und beträgt ca. 20 Prozent des Gesamtwärmebedarfs pro Tag.

2025 Spatenstich Fernwärmetrasse Leuna – Leipzig 
Bis 2028 bauen die Leipziger Stadtwerke und die Netz Leipzig eine rund 19 Kilometer lange Fernwärmeleitung von Leuna nach Leipzig. Das Projekt RE=FILL ist Teil der Wärmewende in Leipzig. Ziel ist es, überschüssige Wärme aus der TotalEnergies Raffinerie in Leuna zu nutzen, die bisher ungenutzt an die Umgebung abgegeben wird. Dadurch werden künftig 38 Prozent des Leipziger Fernwärmebedarfs klimafreundlich gedeckt.

Erneuerbare Energien im Wärmenetz
Mit dem Zukunftskonzept Fernwärme wird Leipzigs Wärmeversorgung weiterentwickelt. Immer mehr erneuerbare Energien sollen ins Wärmenetz fließen – etwa Abwärme, Solar- und Aquathermie. So bleibt Fernwärme modern und sicher. Das Netz misst aktuell rund 500 Kilometer und versorgt etwa ein Drittel der Leipziger Haushalte mit Wärme.
 

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